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Nutsa und Lana Gogoberidze oder die Dunkelheit ist niemals vollkommen

Titel: Nutsa und Lana Gogoberidze oder die Dunkelheit ist niemals vollkommen – Kritik von Tilman Schumacher Neu in der Arte-Mediathek: Die georgische Filmemacherin Lana Gogoberidze erinnert sich an ihre Mutter, die ebenfalls Filmemacherin war. Ihr kammerspielartiger Dokumentarfilmessay ist Emanzipations-, Leidens- und Heldinnengeschichte zugleich. Film und Leben, das poetische Eigenleben des Films, die Verfilmung des eigenen (Familien-)Lebens: Lana Gogoberidze (*1928) hat ihren neuen Film, an dessen Ende sie vor laufender Kamera ihren 94. Geburtstag inmitten von Freund:innen, Weggefährt:innen, Kinder und Enkelkinder feiert, der 1966 verstorbenen Mutter Nutsa Gogoberidze (*1903) gewidmet. Auch sie war eine Filmemacherin. Sogar die erste Filmemacherin Georgiens. Aber das war lange vergessen bzw. galt als nicht erinnerungswürdig. Nur einige Schwarzweißfotografien – fröhliche Gruppenporträts mit allerhand Posieren während der Drehpausen – wiesen für lange Zeit darauf hin. Filmgeschichtsfilm Eine sportlich gekleidete Frau in ihren Zwanzigern steht da selbstverständlich inmitten von Männern, die Kameras und Zubehör tragen, während sich hinter ihnen majestätische Gebirgszüge abzeichnen. Die Bilder stammen aus den späten 1920er und frühen 30er Jahren. Die Filme, auf die sie verweisen, heißen Buba und Ujmuri. Heute gibt es sie wieder zu sehen. Nutsa Gogoberidzes schmales, in seinem expressiven Modernismus mitunter an das Frühwerk Michail Kalatosows (1903–1973) und Oleksandr Dowschenkos (1894–1956) erinnerndes Œuvre lief in den letzten Jahren unter anderem im New Yorker MoMA und im Berliner Kino Arsenal. Auch davon erzählt der Film. Buba handle von der Ewigkeit, so ein von der Erzählstimme Gogoberidzes zitierter US-amerikanischer er anlässlich der Wiederaufführung, und dass er samt der Filmemacherin nun wiederentdeckt werde, lässt sie an dieser Ewigkeit teilhaben. Mother and Daughter, or the Night is never complete (Deda-Shvili an rame ar aris arasodes bolomde bneli) ist dem gegenüber, wenn man so will, ein Film über die Vergänglichkeit, einer über aufgespeicherte Gefühle und die Schwierigkeit, prägende Augenblicke künstlerisch festzuhalten. Am Ende des Films richtet Lana selbst den Blick in die Kamera, rezitiert ein Gedicht – die Lyrik sei ihr neben dem Film stets das Wichtigste gewesen – und verabschiedet sich mit persönlichen Worten vom Publikum. So ist es nicht eine bloße Hommage an die Mutter, sondern vielleicht auch ein eigener Abschied vom Kino. Lebensgeschichtsfilm Es wäre zudem zu kurz gegriffen, Lana Gogoberidzes kammerspielartigen Dokumentarfilmessay über die filmemachende Mutter als bloße Auseinandersetzung mit der georgischen Filmgeschichte und einer ihrer Pionierinnen zu verstehen. Film- und Lebensgeschichten sind hier unentwirrbar verwoben. Zahlreiche Ausschnitte von den Filmen der Tochter lassen die darin eingeflochtene Familiengeschichte auferstehen, zugleich erscheint das Filmemachen von Lana Gogoberidze als Strategie, mit der Schwere (und immer wieder auch der flüchtigen Schönheit) des Lebens fertig zu werden. In den Filmen der Tochter hat die 63-jährig verstorbene Nutsa so etwas wie ein „zweites Leben“ geführt – ins Gedächtnis der Tochter eingebrannte Melodien und Tänze sind hier ihre sinnlichen Stellvertreter, die zahlreichen Figuren kämpferischer Frauen ihre politischen Wiedergängerinnen. Gedenkfilm Mother and Daugther, or the Night is never complete ist auch ein Stück Gedenk- und Trauerarbeit. Ein aufgeschlagenes Tagebuch, das von einem geliebten und gewaltsam aus dem eigenen Alltag entrissenen Menschen handelt, den die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast zugrunde richtete. Eine Emanzipations-, Leidens- und Heldinnengeschichte zugleich. Denn der Kommunismus sowjetischer Provenienz hat eine Schneise der Verwüstung im Familienleben von Gogoberidze hinterlassen. Ihr Vater wurde hingerichtet, ihr fürsorglicher Onkel starb an Krankheit in den Lagern von Stalins „großem Terror“, die Mutter wurde als bloßes familiäres Anhängsel ihres zum Dissidenten erklärten Offiziersmannes (und nicht etwa als eigenständig „schuldig“ gewordenes Individuum) inhaftiert, anschließend fern der Tochter für über zehn Jahre in ein Lager jenseits des Polarkreises verschleppt. Ein wundersam den Weg nach Tbilissi gefundenes Strickkleid war lange das einzige Zeugnis, das der Teenager von seiner Mutter in dieser Zeit der Trennung hatte. Zurück kehrte die Mutter nach Stalins Tod und der eingeleiteten Rehabilitierung nicht etwa verbittert und gebrochen, sondern unternehmungslustig, lebens- und erfahrungshungrig, stets solidarisch mit solchen Menschen, in denen sie Gutes sah. Gefühlsfilm In ähnlicher Weise ist Mother and Daughter, or the Night is never complete kein wütender Film geworden, obwohl Gogoberidze allen Grund dazu hätte, mit der Geschichte abzurechnen. Ihr materialreicher Streifzug durch die georgisch-sowjetische Film- und Familiengeschichte ist sanft und stets an den kleinen Dingen wie auch den großen, aus persönlicher Sicht erzählten Zusammenhängen interessiert. Die Bilder strahlen Ruhe aus. Neugierig besucht die Filmemacherin Orte der Kindheit. Tageslicht fällt zart in die Wohnung, etwa wenn die Filmemacherin am Küchentisch nahe der großzügigen Fensterfront sitzt, vor sich eine weißblaue Keramiktasse, die sie an eine tragisch früh verstorbene Jugendfreundin erinnert. Ein weiteres Zimmer wird zum Dokumentationszentrum. An den Wänden hängen Fotografien, die der Filmemacherin beim Zurückdenken und -fühlen helfen. Man sieht sie hier mit ihrer Tochter Salome Alexi, ebenfalls Filmemacherin (Großmutter, Mutter, Tochter; drei Generationen Filmemacherinnen ist wohl ein filmhistorisches Novum), vor Monitoren und Schneideprogrammen sitzen. Wenn die Kamera an den Fotografien der Wände entlangfährt, blitzen zwischen ihnen azurblaue Flächen hervor. Das blaue Zimmer – eins der Leitmotive des Films. Nutsa Gogoberidze malte das Wohn- und Empfangszimmer der früheren gemeinsamen Tbilisser Wohnung, wo berühmte Künstler:innen der Zeit ein und ausgingen, eigenmächtig blau an. Ungewöhnlich für die Zeit, wie das Voice-over betont. Dieses Blau lässt Lana nicht mehr los. Mother and Daughter, or the Night is never complete ist ein „haptischer“, sich über konkrete Formen und Farben erinnernder Film. Und er ist in einer simplen Form vorgetragen, die die privaten Bedeutungsschichten der Farben und Formen für Lana mitteilt. Statt einer avanciert-verspielten Formsprache gibt es hier gradlinige Emotionalität. Gogoberidze will niemandem (mehr) etwas beweisen. Der Film steht bis 13.04.2026 in der ARTE-Mediathek. Der Text erschien ursprünglich am 15.02.2024. alle neuen Trailer Es gibt bisher noch keine Kommentare. Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.

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